„Die Ukraine ist meine zweite Heimat“ - Interview mit Karl Walter

(KA) Die Nachrichten bezüglich des Ukraine-Krieges erschüttern alle gleichermaßen. Die Situation auf dem Fernseh-Bildschirm zu erleben ist schlimm, jedoch eng verbunden zu sein mit einem betroffenen Land wie aktuell der Ukraine, umso mehr. So wie Karl Walter, der das Bayerische Haus in Odessa als Berater und Vorstand viele Jahre geleitet hat. Wir haben uns mit dem engagierten Karlsfelder über sein bewegtes Leben unterhalten, das viele aufregende Stationen hatte.

 

Karl Walter wurde am 13. Dezember 1942 im Schwäbischen in der Höhe von Crailsheim, in Hohenlohe-Franken geboren. Der fast 80-Jährige wuchs in einer Kleinlandwirtschaft zwischen einer Kuh, zwei Schweinen und 15 Hühnern auf. Als jüngstes Kind half er seiner Mutter und seinen beiden älteren Schwestern in allen Angelegenheiten, da der Vater bis 1947 in Kriegsgefangenschaft war. „Das hat mich damals schon geprägt“, so Karl Walter.

 

Da es in dem Dorf keine höhere Schule gab, schloss er in Crailsheim seine Lehre als Automechaniker ab. Am 1. Oktober 1962 wurde er als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr eingezogen. Nach seiner Verpflichtung zum Zeitsoldaten zog es ihn 1964 nach Amerika, um eine Ausbildung als Radarmechaniker zu absolvieren. Wieder zurück in Deutschland holte er schließlich sein Abitur nach und wurde für die Offizierslaufbahn vorgeschlagen. 30 Jahre war Karl Walter Berufsoffizier, davon sechs Jahre in Texas/USA zur Ausbildung sowie in Lehrtätigkeit und ein Jahr zum Studium an der kanadischen Generalstabsakademie in Toronto/Kanada. „In den 30 Jahren bin ich 20mal umgezogen, die Mobilität hat mir Spaß gemacht. Die Dynamik, sich einzuleben, eigene Ideen durchzusetzen und sich immer wieder neu anzupassen, war eine ständige Herausforderung. Ich musste immer an mir arbeiten, um nicht statisch zu werden. Jedoch hat mich die Zeit in Amerika am meisten geprägt, die große Freiheit ist ein ganz besonderes Erlebnis. Gerne wäre ich für immer dortgeblieben“, erzählt Walter.

 

Doch sein Beruf führte ihn wieder nach Deutschland. Im Jahre 1988 lernte er seine Frau kennen und wurde nach der Zeit als eingefleischter Junggeselle sesshaft. Seine Frau arbeitete als Ärztin in München, Karl Walter war zu der Zeit in Freising Kommandeur des dortigen Flugabwehrraketengeschwaders. So bot sich die Gemeinde Karlsfeld in der Mitte für beide an. Am 1. Oktober 1989 kam Walter nach Karlsfeld, pendelte eine Zeit lang berufsbedingt zwischen Köln und Karlsfeld, ließ sich aber dann letztendlich im Vorruhestand komplett in Karlsfeld nieder.

 

Ganz nach seiner Natur, wollte er auch in dieser Zeit etwas bewegen und fungierte als Unternehmensberater in der freien Wirtschaft, bis die Frage, ein Bayerisches Haus in Odessa aufzubauen vom Sozialministerium kam. „Zuerst habe ich das Angebot empört zurückgewiesen, da ich dachte, es würde um den Verkauf von Weißwürsten und Bier gehen, doch nach einer Schnupperwoche mit einem Ministerialrat des Bayerischen Ministeriums für Arbeit und Soziales habe ich festgestellt, dass die Aufgabe eine tolle Herausforderung wird“.

 

Damit begann eine 20-jährige Pendelphase zwischen Karlsfeld und Odessa mit jährlich ca. 120 Tagen Aufenthalt in der Ukraine.

 

Das Bayerische Haus in Odessa wurde 1993 gegründet und hatte im Jahre 2000 einen Kindergarten, einen Chor, ein Orchester und eine Sprachschule für die deutsche Minderheit in Odessa. Ich sollte evaluieren, ob das Bayerische Haus weitergeführt werden soll und wenn ja, wie es finanziell unabhängig werden kann. „Mein Ergebnis lautete damals eindeutig: Weitermachen auf jeden Fall, aber nicht nur fokussiert auf die Minderheit, sondern Entstehung eines gesamtgesellschaftlichen Wirkens in Form von Lebenskultur (Kultur, Sprache, Soziales und Wirtschaft). Schnell wurde für Kultur, Sprache und Soziales der Wohltätigkeitsfonds Bayerisches Haus Odessa (BHO) und für wirtschaftliches Wirken das Ukrainisch-Bayerische-Wirtschaftszentrum (UBMT GmbH) gegründet. „Ab 2005 hatten wir bereits 50 Festangestellte plus 50 Honorarkräfte und waren wirtschaftlich selbständig. Im Bereich der Sprachschule unterrichteten wir mit 17 vom Goethe-Institut Kiew zertifizierten Lehrern jährlich ca.1.000 Schüler in der deutschen und mit sechs Lehrern ca. 500 Schüler in der englischen Sprache. Die russische und ukrainische Sprache vermittelten und vermitteln wir an Top-Manager und Diplomaten aus aller Welt.“

 

Danach kam die nächste Herausforderung für Karl Walter. Der Gouverneur des Oblast (Bundesland) Odessa erbat in einem streng vertraulichen Gespräch Walters Unterstützung im Kampf gegen HIV/AIDS. Odessa hatte zu dieser Zeit die höchste Infektionsrate in Europa. „Ich erklärte dem Gouverneur, dass ich weder Arzt sei noch bisher mit HIV/AIDS etwas zu tun gehabt hätte, aber als Manager mich vielleicht einbringen könne.“ Hier kam mir mein militärisches Wissen, großflächig zu planen, zugute. So lud ich alle Organisationen, die etwas mit Aids zu tun hatten, in das Bayerische Haus ein. Die gemeinsamen Analysen bestätigten großen Handlungsbedarf und führten zu einem Konzept für Aufklärung an den Schulen und zur medizinischen und psychosozialen Betreuung der HIV-Infizierten und AIDS-Erkrankten.  

 

Für Aufklärung der Jugend wurden von 2005 bis 2007 zunächst im BHO 20 ukrainische Trainer mit Westtrainern ausgebildet. Mit den ukrainischen Trainern konnten wir innerhalb von zwei Jahren für alle Schulen des Oblast Odessa 4.000 Lehrer zur Unterrichtung von HIV/AIDS-Prävention qualifizieren. In der Stadt Odessa wurden mit den ausgebildeten Lehrern alle 13 bis 17-jährigen Schüler (22 000) mit einem gemeinsam erarbeiteten Schülerprogramm über Gefahren von HIV/AIDS und mögliche Schutzmaßnahmen aufgeklärt.

Das Schülerprogramm ist seit 2007 für alle Schüler des Oblast Pflichtprogramm.

 

Die Systematik fand Gefallen und so wurde ich von der Gesundheitsverwaltung gebeten, mit ähnlicher Systematik das Gesundheitssystem des Oblast Odessa in Bezug auf HIV/AIDS zu analysieren.

 

In guter Zusammenarbeit mit lokalen und westeuropäischen Experten wurde dann ein "Netzwerk der Hilfe für HIV-Infizierte der Region Odessa" konzipiert:

Für die Hilfesuchenden wurde bei der HIV/AIDS-Bezirksklinik eine HIV/AIDS-Beratungs- und Koordinierungsstelle (BuK) eingerichtet, die anonym telefonisch berät und bei Bedarf an die medizinischen und psychosozialen Dienste der Region weiterleitet. Für die Schaffung der notwendigen HIV/AIDS-Expertise im Netzwerk wurden dann für alle Kliniken und Sozialstationen Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter*innen für HIV/AIDS ausgebildet.

 

Insgesamt konnte das BHO für den Aufbau von vier „Netzwerken der Hilfe in der Südukraine“ 3 250 Ärzte, 3 679 Krankenschwestern und ca. 4000  Sozialarbeiter/Innen für HIV/AIDS ausbilden. 69.000 Hilfesuchende wurden bisher von den vier Beratungsstellen beraten und 49 000 an medizinische oder/und psychosoziale Hilfe weitergeleitet.

 

Die Infektions- und Sterberate sank. Das führte zu großer Zufriedenheit. Das Konzept wurde von Walter in mehreren Städten der Ukraine, in St. Petersburg und in Indien vorgestellt, diskutiert und teilweise übernommen.

 

Das BHO, auch bekannt für seine Wirtschaftsprojekte, startete 2006 ein Projekt für Unternehmensgründungen nach dem Motto „von der Idee zum erfolgreichen Unternehmer“. Walter vermittelte, zusammen mit erfolgreichen Unternehmern aus Deutschland, Ideenträgern in konsequenter Systematik die Fähigkeit, risikoarm einen Betrieb zu gründen: „von der Behindertenschule über alternative Energiegewinnung bis zum Weinanbau haben viele junge Menschen eine neue Existenzgrundlage finden können“, kommt Walter ins Schwärmen.

 

Seit dem 30. April 2020 ist Karl Walter Vorsitzender der Stiftungsgesellschaft „Förderkreis Bayerisches Haus Odessa e.V.“ mit Sitz in Karlsfeld und kümmert sich noch um die weitere strategische Entwicklung des BHO und wirtschaftliche Kontaktanbahnung.

 

Walter wurde 2008 für sein Wirken in der Ukraine mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande und 2010 mit dem Ehrenkreuz der Stadt Odessa ausgezeichnet.

 

Besonders durch die enge Verbindung zu Odessa und zur Ukraine im Allgemeinen verfolgt Karl Walter die aktuellen Ereignisse mit ganz anderen Augen. Aktuell ist das Bayerische Haus in Odessa seit Kriegsbeginn geschlossen. Viele Menschen sind geflohen. Einige haben in Karlsfeld und München ein neues Zuhause gefunden. Mit dem Förderkreis BHO e.V. haben sie eine gemeinnützige Unternehmergesellschaft gegründet, die Deutsch-Ukrainische Schule München – Odessa (DUSMO). Mit den in Odessa verbliebenen und den nach Deutschland geflüchteten Lehrer*innen wollen sie hauptsächlich im ONLINE-TEACHNING so viel wie möglich geflüchteten ukrainischen Flüchtlingen die deutsche Sprache vermitteln. Es sind bereits zwei Kurse in Furtwangen in vollem Betrieb und es werden im Großraum München weitere fünf Online- und zwei Präsenzkurse organisiert.

 

Im Herbst 2019 war Walter das letzte Mal in der Ukraine. „Die Ukraine ist für mich eine Art zweite Heimat, in die ich viel Herzblut investiert habe. Zu sehen, wie die mir bekannten Plätze in Trümmern liegen, schmerzt“. Mit der Besetzung der Krim in 2014 hatte Karl Walter schon seinen Notfallkoffer gepackt. „Die Gefahr war schon damals da. Meine Einschätzung, dieser Krieg wird noch länger dauern mit vielen Flüchtlingen, Hungersnot und Unterversorgung“. Die in Odessa Gebliebenen stehen mit Bayern durch die Online-Kurse in Verbindung. Als Länderbeauftragter für die Ukraine beim Ost-West-Wirtschaftsforum Bayern, versucht Walter Kontakte zu ermöglichen. „Den Flüchtlingen in Deutschland und in Karlsfeld wünsche ich, dass sie eine angenehme Unterkunft finden, dass sie positiv aufgenommen werden und Menschlichkeit erleben dürfen, dass sie trotz der negativen und prägenden Erlebnisse positive Erfahrungen mitnehmen und sich eine Existenz aufbauen können. Für unsere Gesellschaft wünsche ich mir, dass wir erkennen, dass die Freiheit, in der wir leben, keine Selbstverständlichkeit ist und wir uns immer darum bemühen müssen, diese zu erhalten“.

 

Neben dem Engagement in Odessa war Karl Walter erster Vorsitzender des Reservistenvereins in Karlsfeld, deren Mitglied er immer noch ist. 2018 hat er die Selbsthilfegruppe Parkinsontreff Karlsfeld/Dachau gegründet, 2019 wurde das Parkinson-Netzwerk mit Dr. Lechner ins Leben gerufen. Animiert durch die Erfolge aus der Ukraine, wurde die Selbsthilfegruppe initiiert. In der Selbsthilfegruppe können Kenntnisse zwischen den Patienten ausgetauscht werden, es besteht ein Solidaritätsgefühl und mit dem Austausch kann auf Wege hingewiesen werden, die helfen. Wer mehr erfahren möchte, kann sich an Karl Walter unter der E-Mail-Adresse walter-karlsfeld@t-online.de wenden.

 

Foto: Karl Walter